Ich sitze an meinem Schreibtisch und kaue sinnbildlich meinen dritten Bleistift durch, weil ich momentan ratlos über meiner Rezension von „Das flüssige Land“ brüte.
Genial oder ein Rohrkrepierer? Würdig für die Shortlist
zum Deutschen Buchpreis? Ein einzigartiges Bucherlebnis, ein literarisches
Highlight? Ein Satz mit X oder mein Fehlkauf 2019? Alles und doch nichts von diesen
Punkten!!!
Ich fange einfach mal mit dem Inhalt an:
Ruth Schwarz, eine theoretische Physikerin, schreibt an
ihrer Habilitation, als sie telefonisch vom Unfalltod ihrer Eltern erfährt.
Eine Schreckensnachricht für die psychisch instabile junge Frau, die sie
komplett aus der Bahn wirft. Den letzten Wunsch der Eltern, ein Begräbnis im
österreichischen Groß-Einland, möchte ihnen Ruth erfüllen. In einer Nacht und
Nebelaktion macht sie sie auf die Suche nach dem Örtchen, das in keiner
Landkarte verzeichnet und von keiner Behörde registriert ist. Schließlich
findet sie das Dorf. Als sie es wieder verlässt, sind Jahre vergangen. Die
Eltern ruhen in Wien, Ruth ist keinen Deut schlauer und wir Leser sind gefangen
von einem nicht zu greifenden Loch, welches zumindest bei mir ein großes
Fragezeichen zurücklässt.
Der zentrale Mittelpunkt von Groß-Einland ist das Loch. Eine
gigantische unterirdische Aushöhlung, die sich durch den ganzen Ort zieht.
Gewachsen in zig Jahrzehnten beherrscht es alles: Die Statik, die Menschen und
es lässt die Schrecken der Vergangenheit immer wieder an die Oberfläche treten.
Raphaela Edelbauer brilliert durch Gegensätzen, die sie
sowohl ihren Protagonisten, als auch deren Handlungen verpasst. Sämtliche
Verhaltensweisen mit einer gewissen Logik, lösen sich kurze Zeit später in Schall
und Rauch auf. Die Autorin bedient sich dabei aus sämtlichen Genres, mixt
Märchen mit Geschichte, Mystik mit Heimatroman, Thriller mit wissenschaftlichen
Studien.
Bei aller Schaffensgenialität von Frau Edelbauer fühle ich
mich dennoch um Antworten betrogen. Habe ich als Leserin keine Rechte darauf?
Stehen mir nicht wenigstens einige Erklärungen zu den Vorgängen rund um das
Örtchen zu? Zwingt sie mich zum Buchdeckel schließen, wo doch tausend Fragen in
meinem Kopf herumschwirren? Unter anderem folgende:
Ruth Schwarz: Das Physikgenie mit genialer Denkweise? Sind
ihre Forschungen, ihre Erkenntnisse, ja ihr ganzes Leben der letzten drei (oder
sechs?) Jahre nur ein Resultat von
medikamentenvernebelten Halluzinationen? Ein Alptraum, der nie stattfand?
Ruths Eltern: Warum führten sie ein Doppelleben? Zwang
sie ihre eigene Familiengeschichte dazu, dass nichts von Groß-Einland an ihre
nahen Verwandten durchdrang? War ihr Unfall ein eiskalter Mord? Wo sind die Beweise,
die Licht ins Dunkel der Geschichte bringen würden? Befindet sich Ruth auf
derselben Fährte?
Die Gräfin Ursula: Oder sollen wir sie lieber als die österreichische
Herzkönigin von Alice im Wunderland bezeichnen? Ein naives Dummchen, die den
gigantischen unterirdischen Hohlraum zur Touristenattraktion umfunktionieren
will? Die Eiskalte, Berechnende, Alleswissende. Aber wehe, du wirfst einen
Blick hinter die Kulissen.
Die Dorfbewohner: Sie feiern Feste und leben im Frieden, sie
lieben ihre Gräfin. Was macht es schon, wenn das Loch ihre Häuser, ihre Leben
frisst. Man passt sich eben an…
Die Autorin: Noch einmal zur Frage: Zwingt sie mich zum
Buchdeckel schließen? Ja das tut sie, ohne mit der Wimper zu zucken… Was mich im stetigen Kreislauf zu der Frage
führt:“Das flüssige Land“, genial oder ein Rohrkrepierer?
Ein genialer Rohrkrepierer! Das finde ich gut, das trifft
den Nagel auf den Kopf. Den ich darum mit
drei neutralen Sternen bewerten möchte. Der stellenweise fünf und stellenweise
nur einen Stern verdient hätte. Suchen sie sich was aus, lesen sie es selbst
und passen sie sich an…
Die Daten zum Buch
- Gebundene Ausgabe: 350 Seiten
- Verlag: Klett-Cotta
- ISBN: 978-3608964363
- 22 Euro in allen gängigen Buch- und Onlinebuchhandlungen
Fotos: Quelle Pixabay
Ich bedankke mich bei Netgalley und dem Klett-Cotta Verlag für das Leseexemplar.