Mittwoch, 27. November 2019

Buchrezension "Das flüssige Land"




Ich sitze an meinem Schreibtisch und kaue sinnbildlich meinen dritten Bleistift durch, weil ich momentan ratlos über meiner Rezension von „Das flüssige Land“ brüte.
Genial oder ein Rohrkrepierer? Würdig für die Shortlist zum Deutschen Buchpreis? Ein einzigartiges Bucherlebnis, ein literarisches Highlight? Ein Satz mit X oder mein Fehlkauf 2019? Alles und doch nichts von diesen Punkten!!!

Ich fange einfach mal mit dem Inhalt an:
Ruth Schwarz, eine theoretische Physikerin, schreibt an ihrer Habilitation, als sie telefonisch vom Unfalltod ihrer Eltern erfährt. Eine Schreckensnachricht für die psychisch instabile junge Frau, die sie komplett aus der Bahn wirft. Den letzten Wunsch der Eltern, ein Begräbnis im österreichischen Groß-Einland, möchte ihnen Ruth erfüllen. In einer Nacht und Nebelaktion macht sie sie auf die Suche nach dem Örtchen, das in keiner Landkarte verzeichnet und von keiner Behörde registriert ist. Schließlich findet sie das Dorf. Als sie es wieder verlässt, sind Jahre vergangen. Die Eltern ruhen in Wien, Ruth ist keinen Deut schlauer und wir Leser sind gefangen von einem nicht zu greifenden Loch, welches zumindest bei mir ein großes Fragezeichen zurücklässt.



Der zentrale Mittelpunkt von Groß-Einland ist das Loch. Eine gigantische unterirdische Aushöhlung, die sich durch den ganzen Ort zieht. Gewachsen in zig Jahrzehnten beherrscht es alles: Die Statik, die Menschen und es lässt die Schrecken der Vergangenheit immer wieder an die Oberfläche treten.



Raphaela Edelbauer brilliert durch Gegensätzen, die sie sowohl ihren Protagonisten, als auch deren Handlungen verpasst. Sämtliche Verhaltensweisen mit einer gewissen Logik, lösen sich kurze Zeit später in Schall und Rauch auf. Die Autorin bedient sich dabei aus sämtlichen Genres, mixt Märchen mit Geschichte, Mystik mit Heimatroman, Thriller mit wissenschaftlichen Studien.

Bei aller Schaffensgenialität von Frau Edelbauer fühle ich mich dennoch um Antworten betrogen. Habe ich als Leserin keine Rechte darauf? Stehen mir nicht wenigstens einige Erklärungen zu den Vorgängen rund um das Örtchen zu? Zwingt sie mich zum Buchdeckel schließen, wo doch tausend Fragen in meinem Kopf herumschwirren? Unter anderem folgende:

Ruth Schwarz: Das Physikgenie mit genialer Denkweise? Sind ihre Forschungen, ihre Erkenntnisse, ja ihr ganzes Leben der letzten drei (oder sechs?)  Jahre nur ein Resultat von medikamentenvernebelten Halluzinationen? Ein Alptraum, der nie stattfand?

Ruths Eltern: Warum führten sie ein Doppelleben? Zwang sie ihre eigene Familiengeschichte dazu, dass nichts von Groß-Einland an ihre nahen Verwandten durchdrang? War ihr Unfall ein eiskalter Mord? Wo sind die Beweise, die Licht ins Dunkel der Geschichte bringen würden? Befindet sich Ruth auf derselben Fährte?

Die Gräfin Ursula: Oder sollen wir sie lieber als die österreichische Herzkönigin von Alice im Wunderland bezeichnen? Ein naives Dummchen, die den gigantischen unterirdischen Hohlraum zur Touristenattraktion umfunktionieren will? Die Eiskalte, Berechnende, Alleswissende. Aber wehe, du wirfst einen Blick hinter die Kulissen.



Die Dorfbewohner: Sie feiern Feste und leben im Frieden, sie lieben ihre Gräfin. Was macht es schon, wenn das Loch ihre Häuser, ihre Leben frisst. Man passt sich eben an…

Die Autorin: Noch einmal zur Frage: Zwingt sie mich zum Buchdeckel schließen? Ja das tut sie, ohne mit der Wimper zu zucken…  Was mich im stetigen Kreislauf zu der Frage führt:“Das flüssige Land“, genial oder ein Rohrkrepierer?



Ein genialer Rohrkrepierer! Das finde ich gut, das trifft den Nagel auf den Kopf.  Den ich darum mit drei neutralen Sternen bewerten möchte. Der stellenweise fünf und stellenweise nur einen Stern verdient hätte. Suchen sie sich was aus, lesen sie es selbst und passen sie sich an…


Die Daten zum Buch


  • Gebundene Ausgabe: 350 Seiten
  • Verlag: Klett-Cotta
  • ISBN: 978-3608964363
  • 22 Euro in allen gängigen Buch- und Onlinebuchhandlungen
Fotos: Quelle Pixabay
Ich bedankke mich bei Netgalley und dem Klett-Cotta Verlag für das Leseexemplar. 



Mittwoch, 6. November 2019

Buchrezension "Das Buch der vergessenen Artisten"




Als Deutschland durch das kranke Gedankengut von Adolf Hitler verseucht wurde, mussten nicht nur Juden um ihr Leben fürchten. Auch Behinderte und Leute vom fahrenden Volk, darunter Artisten, Schausteller und die sogenannten „Freaks“ – Kuriositätendarsteller traf ein ähnliches Schicksal. Oft verschwanden sie spurlos von der Bildfläche. Keiner hörte jemals wieder etwas von ihnen.

Mathis Bohnsack, der lange Zeit mit seiner geliebten Röntgenmaschine von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, von Engagement zu Engagement zog, möchte das Schicksal seiner Freunde und Kollegen nicht hinnehmen. Ein Buch soll an alle Künstler und Mitglieder dieser Gilde erinnert. Ein Buch der vergessenen Artisten, geschrieben von ihm, Mathis Bohnsack.


Ein schwieriges Unterfangen, denn der Mann kann kaum einen Stift halten. Die Strahlenkrankheit, ausgelöst durch seine unzähligen Röntgenvorführen, kostete ihn bereits einige Fingerglieder.  Nun droht die Amputation der gesamten Hand.  Doch das Schicksal schlägt noch viel erbarmungsloser zu. Seine langjährige Lebenspartnerin Meta, ist gebürtige Jüdin. Zusammen mit Ernsti, ihrem geistig behinderten Bruder, gerät die kleine Familie schnell ins Visier der Behörden. Sie planen die Flucht nach Amerika. Leider verzögert sich die Ausreise durch unzählige Hürden wieder und wieder. Ein Wettlauf gegen ihr Schicksal in Deutschland beginnt….

Das Buch zog mich von der ersten Seite an in seinen Bann.  Fasziniert erlebte ich einen Mathis, der sich um sein Buch bemühte und so oft durch widrige Umstände daran scheiterte. Seine Rolle als Schriftsteller übernahm nun die Autorin Vera Buck selbst. Indem sie Mathis Lebensgeschichte als Schausteller und Röntgenkünstler in einer zweiten Storyline schilderte, setzte sie unzähligen
historischen Personen ein würdiges und verdientes Denkmal.

Diese Zeit nach der Jahrhundertwende, als man das Publikum unter anderem mit tätowierten Damen, Kleinwüchsigen oder exotischen Völkerschauen begeistern konnte. Diese Zeit in der die moderne Medizin noch in den Kinderschuhen steckte, erste Filme den Durchbruch hatten und Autos mit halsbrecherischen 25 Stundenkilometern die Straßen unsicher machten. 
Sie wurde von Vera Buck perfekt eingefangen und mit ihrem eigenen deftig herben Humor unterstrichen, der mich das Buch nahezu verschlingen ließ.
Ich habe die Welt von Mathis Bohnsack  und seiner Kraftfrau Meta geliebt und mit ihnen all die Menschen, die ein Stück ihres  Weges gingen.



Ich möchte eine absolute Leseempfehlung aussprechen 
und bewerte das Buch mit 5 wohlverdienten Sternen.



Die Daten zum Buch

  • Gebundene Ausgabe: 752 Seiten
  • Limes Verlag
  • ISBN: 978-3809026792
  • 22 Euro in allen gängigen Buch- und Onlinebuchhandlungen